Das Biodynamische Modell von Gerda Boyesen

Gerda Boyesen hat aus ihrer Arbeit als Psychotherapeutin und Körpertherapeutin und mit dem Menschenbild von Willhelm Reich, der als Begründer der westlichen körperorientierten Psychotherapie gilt, ein Modell von psychischer Gesundheit und Krankheit entwickelt. In diesem Modell stehen Körper und Psyche in einer engen Wechselwirkung miteinander.Gesundheit wäre, wenn die Lebensenergie im Körper frei fließen kann. Freud nannte die Lebensenergie Libido, Reich Orgon. Ist dies bei einem Menschen möglich, so kann er laut Boyesen seine Primärpersönlichkeit entwickeln bzw. leben. Die Primärpersönlichkeit ist dadurch gekennzeichnet, dass sie Zugang zu den eigenen Gefühlen, Bedürfnissen hat, gut für sich selbst sorgen kann, flexibel ist, dabei anderen freundlich gesonnen, guten Kontakt zu anderen herstellen kann, sich auch abgrenzen und wehren kann, sie ist voller Lebenslust, ist interessiert, spielerisch eingestellt und neugierig, was das Leben noch so bereit hält… Wird eine Kind über längere Zeit darin gebremst sich auszudrücken (und das ist wohl bei den meisten Menschen in der einen oder anderen Form der Fall), entstehen körperliche und psychische Blockaden. Wird z.B. kontinuierlich über eine längere Zeit der Ausdruck von Wut bestraft, entsteht eine sogenannte Sekundärpersönlichkeit. Reich nannte es Muskelpanzer. Blockaden bremsen den Ausdruck und verhindern häufig auch das Bewusstwerden des Gefühls. Wichtig ist auch der Begriff der „körperlichen Neurose“. Freud prägte ja den Begriff Neurose für eine psychische Erkrankung, die durch eineninneren Konflikt, der nicht lösbar erscheint, entsteht. Reich und Boyesen betonen nun, dass die psychische Störung auch immer in Verbindung mit körperlichen Blockaden steht. Neu an Boyesens Modell ist ist vor allem auch die Entdeckung der „Psychoperistaltik“. Freudl (1980, S.1): „Das Anschwellen und Abebben einer jeden Emotion bringt eine weitgefächerte Sequenz physiologischer Veränderungen mit sich, bis hinunter zur mikroskopischen Ebene und einschließlich vasomotorischer Reorganisation („der emotionale Blutkreislauf“). Ist das emotionale Ereignis vorüber, so sollten diese körperlichen Prozesse wieder auf ein normales Niveau zurückgehen – und in einem gesunden Organismus geschieht dies auch. Unter der Voraussetzung, dass die körperlichen Effekte der Emotion aus dem Organismus buchstäblich heraus-“geklärt“ werden, kann man das emotionale Ereignis vollständig überwinden. Nach Gerda Boyesens Theorie spielen die peristaltischen Prozesse der Eingeweide (d.i. Magenknurren und ähnliche Bauchgeräusche) eine entscheidende Rolle in diesem Klärungsprozess. Genauso wie sie eine Rolle im Verdauungsprozess spielen, treten Verdauungsgeräusche, peristaltische Wellen auch als Reaktion auf emotionalen Stress verbundenen organischen Druck auf.“

Therapie nach Boyesen: Gerda Boyesen hat viel auf der Körperebene – häufig mit Massage (meist auf der Faszienebene) aber auch mit Körperübungen und Gespräch gearbeitet. Psychoperistaltische Geräusche leiteten sie durch die Arbeit, da es für sie ein Zeichen war, dass alte emotionale Energie aktualisiert und nun verarbeitet wurde. Dabei arbeitete sie zumindest schließlich „Schicht für Schicht“ (Zwiebelsystem). D.h. nicht provokativ, sondern mit der oberen Schicht des emotionalen „Materials“, dass „bereit“ ist, bearbeitet zu werden. Die Theorie ist die, dass Menschen ein bestimmtes Pensum an Altlasten vertragen können. Arbeitet man an zu tiefen Schichten, kann es sein, dass man von den Emotionen überschwemmt wird und es nicht möglich ist, sie zu verarbeiten, zu integrieren und der Mensch von der Therapie destabilisiert wird. Gerda Boyesen sagte auch, dass sie immer „am Widerstand entlang“ arbeiten würde, also nicht über den Widerstand drüber ginge.

Pert und Gershon: Wissenschaftliche Untermauerung von Boyesens Modell Die Neurobiologin Candace B. Pert, hat erforscht, wie die Botenstoffe an der Entstehung von Gefühlen beteiligt sind. Diese Informationsstoffe des Nervensystems sind nicht nur im Nervensystem zu finden, sondern überall im Gewebe auf der Flüssigkeitsebene. Sie glaubt, Freud wäre begeistert… „Der Körper ist das Unbewusste. Verdrängte Traumen, die durch übermäßig intensive Gefühle verursacht werden, können in einem Körperteil gespeichert werden und dadurch unsere Fähigkeit beeinträchtigen, diesen Teil zu fühlen oder sogar zu bewegen.“ (Pert 2007, S.213) „Unter dem Einfluss von Neuropeptiden ruft unser Körpergeist Gefühle und Verhaltensweisen ab oder unterdrückt sie. …Diese neuesten Entdeckungen zeigen, wie Erinnerungen nicht nur im Gehirn gespeichert werden, sondern auch in einem psychosomatischen Netzwerk, das sich durch den ganzen Körper erstreckt.“ (Pert, 2007, S.217). Diese Worte, die sich lesen, als wären sie von einer Körpertherapeutin geschrieben worden, entstanden als Resumé biologischer Forschung zum Opiatrezeptor (Opiate sind Botenstoffe, die Glück und Euphorie auslösen). Sie entwickelte ja eigentlich ein Modell eines Nervensystems, das den ganzen Körper durchdringt, von einer/m ganzkörperliche/n Psyche oder Geist. Das Konzept des Fließens der Lebensenergie wird durch sie wissenschaftlich untermauert: Die Botenstoffe des Nervensystems, die ja elektrisch geladen sind, bewegen sich über die Flüssigkeitsebene im Körper – die Information des Nervensystems stehen so jedem Körperteil zu Verfügung (da ja über die Faszien-, also die Flüssigkeitsebene alle Systeme, sogar jede Zelle ohne Grenze miteinander verbunden sind). Dies bestätigt die therapeutische Methode von Gerda Boyesen, die hauptsächlich auf der Faszienebene des Körpers gearbeitet hat. Hier gibt es also die Möglichkeit, mit der emotionalen Ebene es Körpers, den besagten Botenstoffen des Nervensystems, zu kommunizieren, bzw. die in Blockaden gebundenen Botenstoffe wieder zu lösen und im emotionalen Kreislauf wieder in Bewegung zu bringen. „Kurzum, ich möchte hier deutlich machen, dass das Gehirn auf molekularer Ebene sehr eng mit dem Rest des Körpers verzahnt ist ist, so eng, dass der Begriff mobiles Gehirn eine treffende Beschreibung des psychosomatischen Netzwerks ist, über das intelligente Information von einem System zum anderen gelangt. Jede Zone, jedes System des Netzwerks – das neurale, hormonale, gastrointestinale und immunologische – ist so beschaffen, dass es durch Peptide und botenspezifische Peptidrezeptoren mit jedem anderen kommunizieren kann. Sekunde für Sekunde findet in unserem Körper ein umfassender Informationsaustauch statt. Stellen wir uns vor, jedes dieser Botensysteme besäße eine spezifische Tonlage, eine Erkennungsmelodie, steigend und fallend, lauter und leiser, gebunden und ungebunden, und stellen wir uns weiter vor, wir könnten diese Körpermusik hören, dann wäre die Summe dieser Klänge die Musik, die wir Gefühle nennen. Gefühle. Die Neuropeptide und Rezeptoren, die biochemischen Stoffe des Gefühls sind, wie ich gesagt habe, die Botenstoffe, die durch Informationsübertragung die großen Körpersysteme zu einer Einheit zusammenschließen, einer Einheit, die wir als Körpergeist bezeichnen können. Also dürfen wir nicht länger so tun, als hätten Gefühle geringere Bedeutung als die konkrete, materielle Substanz. Vielmehr müsse wir sie als Zellsignale begreifen, die an der Übersetzung von Information in physische Realität beteiligt sind – buchstäblich an der Verwandlung von Geist in Materie. Gefühl ist das Bindeglied zwischen Materie und Geist; es wechselt zwischen ihnen hin und her und beeinflußt beide.“ (Pert 2007, S.288f)

Eine besondere Stellung kommt dabei laut Boyesen ja dem Darm zu. Auch hier findet man bei Pert (2007, S. 287) eine Bemerkung: „Um festzustellen, was dies in der Praxis bedeutet, wollen wir einen Augenblick zu unserm Ausgangsbeispiel, dem Darm zurückkehren. Die gesamte Auskleidung des Verdauungstraktes, von der Speiseröhre bis zum Dickdarm, einschließlich der sieben Schließmuskeln, besteht aus Zellen – Nervenzellen und anderen Zellen, die Neuropeptide und Rezeptoren enthalten. Ich halte es für durchaus möglich, dass die Rezeptorendichte im Darm dafür verantwortlich ist, dass wir unsere Gefühle in diesem Teil unserer Anatomie spüren, denken wir an Redeweisen wie die von den „Schmetterlingen im Bauch“.“

Ein anderer inzwischen sehr bekannter Forscher, Michael Gershon, hat nachgewiesen, dass der Darm eine Art zweites Gehirn ist. Boyesen, Bergholz (2007, S. 96): „Gerda Boyesen konnte einen stillen Triumph feiern, denn die Richtigkeit ihrer Thesen zur Psychoperistaltik fanden hier wissenschaftliche Fundamente. Das Bauchhirn als „Herrscher über ein Binnen-Universum des Menschen: die Schaltzentrale der Verdauungsmaschinerie, die nicht nur derbe Größen wie Nährstoffzusammensetzung, Salzgehalt und Wasseranteil analysiert und Absorbtions- und Ausscheidungsmechanismen koordiniert. Sie kontrolliert auch die raffinierten Gleichgewichte von hemmenden und erregenden Nervenbotenstoffen, stimulierenden Hormonen und schützenden Sekreten. … In diesem Zusammenhang konnten Forscher vor kurzem feststellen, dass weitaus mehr Nerven vom Bauch in das Hirn führen als umgekehrt. 90 Prozent der Verbindungen verlaufen von unten nach oben. Warum? Gershon: „Weil sie wichtiger sind als die von oben nach unten.“

Hier finden sich also die wissenschaftlichen Untermauerungen für die Annahmen von Gerda Boyesen: Die Flüssigkeitsebene im Körper als Träger der Lebensenergie (die elektrisch geladenen Botenstoffe) und der Darm als Regulator für Stress und Emotionen.

Persönliche Verbindung zum Thema Letztlich bietet Gerda Boyesen für mich das grundlegende Modell für die Körperpsychotherapie. Ein Gerüst, mit dem ich verstehe, was passiert, wenn übers Tanzen z.B. Erinnerungen kommen oder sich allmählich mehr Lebensfreude einstellt. Das Modell baut auf Reich auf, aber ich finde es spürbar, dass sie ihr eigenes Modell im Tun, im Erforschen der Reaktionen ihrer Klienten entwickelt hat. Das „Zwiebelsystem“ ist mir sehr sympathisch. Es ist auch lebensnah und organisch, denn für die meisten Menschen ist es wichtig, weiter „funktionieren“ zu können und da sind kleine, verkraftbare Veränderungen gut… Ich war z.B. entsetzt, als ich in der „Charakteranalyse“ (Reich, 1971) irgendwo gelesen habe, dass er Blockaden in der Kehle mit Würgereizen, die er mit seinen Fingern hervorruft, auflöst. Das Prinzip des Schmelzens von Boyesen kommt meinen Bedürfnissen sehr entgegen. Es ist nicht nötig über meine oder jemandes Grenzen zu gehen oder Gewalt anzuwenden. Die Weiterentwicklung von Gabriele Fischer, die es Menschen ermöglicht, selbst einen großen Teil der Körperarbeit zu machen und Schicht für Schicht die Lebensenergie wieder ins Fließen zu bringen, ist ein Angebot zur Selbstermächtigung in Vorsicht, Respekt und Liebe zu sich selbst.

 

Literatur

Boyesen, Gerda (1982) The Primary Personality, Journal of Biodynamic Psychology. No. 3, London

Boyesen, Gerda, Bergholz, Peter (2007) Dein Bauch ist klüger als du. Miko-Edition Verlag, Hamburg

Freudl, Peter (1980) Intern. Found. of Biod. Psych., What is Biodynamic Psychologie? Journal of Biodynamic Psychologie, No. 1, London

Pert, Candace B. (2007) Moleküle der Gefühle – Körper, Geist und Emotionen. Rowohlt Taschenbuch Verlag, Reinbek

Reich, Wilhelm (2006) Charakteranalyse. Verlag Kiepenheuer und Witsch, Köln

 


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